Der Spiegel in verschiedenen Kulturen: So wird er genutzt!
Ein Spiegel, nüchtern betrachtet, ist eine glatte Oberfläche, die das Licht bündelt und so die physische Welt als flaches Bild reflektiert. Doch: Spiegel ist nicht gleich Spiegel. So wie er in der westlichen Welt benutzt wird, geschieht es nicht in anderen Kulturen. Meist symbolisch aufgefasst, wurde dem Spiegel schon früh eine zentrale Geltung und besondere Kräfte zugeschrieben. Wie Spiegel auf der ganzen Welt in der Vergangenheit anders gebraucht und dadurch heute noch mit unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen werden, lesen Sie hier.
Der Spiegel in westlichen Kulturkreisen: Ausdruck von Eitelkeit
Eine Wohnung ohne Spiegel? Unvorstellbar! Laut einer britischen Studie verbringen Frauen durchschnittlich zwei Jahre ihres Lebens damit, ihr Ebenbild zu begutachten. Der mehrmalige Blick in den Spiegel gehört für unsereins dazu wie das tägliche Brot. Schließlich wollen wir wissen, ob unsere Haare sitzen, das Makeup makellos ist oder uns die Klamotten stehen. Ein Spiegel ist für uns wichtig, damit wir uns selbst erkennen; somit steht er gleichzeitig für Selbsterkenntnis und Eitelkeit. In dieser Bedeutung tritt er oft auch in den bildenden Künsten auf.
Die Nutzung des Spiegels in verschiedenen Kulturen
Als Utensil der Schönheitspflege hat der Spiegel einen sehr hohen Stellenwert für westliche Gesellschaften. Doch dies ist so nicht in allen Kulturkreisen festzumachen. Reflektierende Apparaturen gibt es schon sehr lange; Obsidian Spiegel beispielsweise können bis ins Jahr 6000 v. Chr. zurückdatiert werden. Deshalb ist es umso interessanter, wie sich unterschiedliche Kulturen die Eigenschaften von Spiegeln zu Eigen machten und für verschiedene Zwecke benutzen: eine kleine Zeitreise von der Antike bis in die Gegenwart, von Indianern und Schamanen.
Die Spiegelstrahlen-Kanone des Archimedes
Die Spiegelkanone des Archimedes gehört zu den größten Mythen der Antike: demnach soll der griechische Mathematiker und Erfinder im Jahre 214 v. Chr. mit in einem Spiegel gebündeltem Sonnenlicht eine römische Flotte vor seiner Heimatstadt Syrakus in Flammen gesetzt haben. Auch wenn diese Sage heute durch physikalische und technische Gegenargumente relativiert wurde, behält der Spiegel als „Brennspiegel“ der Antike noch immer symbolische Bedeutsamkeit (Quelle).
Die Spiegelsignale der Indianer für die Jagd
Rauchzeichen als Verständigungsmittel der Indianer sind so gut wie jedem bekannt. Durch die Erzeugung verschiedener Arten von Rauch, wie schwarzem oder weißem, konnten Stämme über große Distanzen intern miteinander korrespondieren. Aber wussten Sie, dass Indianer Spiegel mit Hilfe der Sonne auch als Signalerzeuger benutzten? So wurden, ähnlich des heute bekannten Morsealphabets, mit reflektierenden Lichtblitzen lange und kurze Zeichen gesetzt, die weithin erkennbar waren. Die Jagdvorhut der Indianerstämme vermittelte so Auskünfte über Anzahl und Art der Beute, in Kriegszeiten wurden in gleicher Weise Informationen über den Gegner gesendet, aber auch zwischen Liebespaaren wurde mit Spiegeln kommuniziert (Quelle). Optische Telegraphie wurde aber nicht nur bei den Indianern betrieben. Auch später wurde sie in Form eines Heliographen (= Spiegeltelegraph) zur Nachrichtenübertragung für militärische Zwecke eingesetzt. Spezielle Spiegel dafür sind heute oft in militärischen Survival Kits integriert.
Der Spiegel als Teil der Thron-Insignien in Japan
Als Gebrauchsgegenstand wurde der Spiegel in Japan lange nicht benutzt. Denn eine Legende besagt, dass die Sonnengöttin Amaterasu den Menschen ihre Seele in Form eines Spiegels hinterließ. Deshalb werden in Japan Bronzespiegel in großen Mengen für die Sonnengöttin geopfert. Doch nicht nur in der japanischen Mythologie ist der Spiegel etwas Besonderes: der Heilige Spiegel (yata no kagami) gehört in Japan mittlerweile zu den drei Kleinodien des Kaisers (Quelle). Zusammen mit Edelsteinen und Schwert ist der Spiegel Teil der Reichsinsignien, die dem Kaiser bei Besteigung des Throns feierlich übergeben werden. Diese drei Gegenstände wurden von Amaterasu an ihren Enkel Ninigi überreicht, als er auf die Erde hinabstieg, um über Japan zu herrschen (Quelle).
Spiegel als Requisite in der Magie der mongolischen Schamanen
In der Mongolei gilt der Spiegel als wichtiges Hilfswerkzeug von Schamanen. Absicht von Schamanensitzungen ist das Erzielen eines Trancezustands, um Kontakt zur Geisterwelt zu erhalten. Dafür wird beispielsweise die Trommel und gleichmäßiger Trommelschlag verwendet. Zur Magie der „Zauberer“ werden kleine, flache Metallspiegel umgehängt, die während der Sitzung negative Energien und den „bösen Blick“ durch Reflexion abwehren sollen (Quelle). Meist sind diese Spiegel an dünnen Lederriemchen an einem dicken Querriemen aufgezogen und an Mantel oder an die Brust gehängt (Quelle). Die Spiegel können als Schutzamulette aber auch am Kopf getragen werden. Hier finden Sie noch weitere Bilder typischer Schamanen-Kostüme.
Illusion: Der chinesische Zauberspiegel
Unter die Illusion durch Spiegel und den physikalischen Fachbereich der Optik fallen Zauberspiegel („magic mirrors“) aus Asien. Obwohl diese kleinen Spiegel bis in die Zeit der Han Dynastie (206 v.Chr. bis 24 v.Chr.) zurückdatiert werden können, sind sie den Europäern erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts bekannt. Auf den ersten Blick wirkt die Apparatur wie ein funktionierender Spiegel – aus Bronze gefertigt – auf dessen Rückseite reliefartig Ornamente eingeprägt sind. Auf den zweiten Blick jedoch scheint dieser, aus massivem Metall gefertigte Spiegel lichtdurchlässig zu sein – denn: Hält man ihn ins Sonnenlicht, so kann die rückseitige Prägung auf eine im Schatten liegende Wand projiziert werden. Die Chinesen nennen den Spiegel deshalb „Théou Kouang-Kein“, das heißt wörtlich: „Spiegel, welche das Licht durchlassen“. Wissenschaftler haben über Jahre versucht, dieses Phänomen zu erklären. Des Rätsels Lösung liegt in einer genauen Betrachtung: Die polierte Oberfläche zeigt kleine, meist mit Salpetersäure geätzte Linien auf, die der Abbildung der Rückseite ähnlich sind – jedoch so fein, dass sie mit dem bloßen Auge nicht erkennbar sind. Worin ganz genau das Geheimnis des Spiegels des alten Chinas liegt, finden Sie hier in einer von zwei Physikern verständlich geschriebenen Erklärung.
Eine Vorstellung des „Magic Mirrors“, finden Sie zudem auch in folgendem Video:
Spiegel in orientalischen Stickerei-Arbeiten: Shisha
Die bunt umrandeten Spiegelstickereien gehören für die meisten Menschen zum Orient wie Kamele, Gewürze und 1001 Nacht. Diese auch „Shisha“ (von persisch shisheh: Glas) genannten Handarbeiten, angeblich von Mumtaz Mahal erfunden, der Frau zu deren Ehren der Taj Mahal erbaut wurde, waren früher in traditionellen Folkoregewändern in ganz Asien zu finden. Geometrische Designs werden kunstvoll mit kleinen, meist runden Spiegelchen ausgestattet, die dem Kleidungsstück bei Bewegung ein Funkeln verleihen. Die Positionierung der Spiegel hat oft auch symbolische Bedeutung: meist sind die Spiegel anstatt der Blütenmitte bei Blumen oder anstatt der Augen gestickter Tiere angebracht. Auch heute können Spiegel in traditionellen Gewändern vor allem von muslimischem Glauben geprägter Länder wie in Indien, Afghanistan, Iran, Pakistan, China und Indonesien gefunden werden.
Der Spiegel als Element bei persischen Hochzeiten
Der Spiegel stellt bei persischen Hochzeiten eines der wichtigsten Elemente dar: Er symbolisiert Reinheit und die Wirklichkeit der Ehe. Traditionell wird auf den Buffet-Tisch ein „Schicksalsspiegel“ (aayeneh-ye bakht) zwischen zwei Kerzenleuchter, die Braut und Bräutigam symbolisieren, platziert. Zusammen stehen diese Objekte für Licht, Feuer, Tugend und Weisheit. Wenn die Braut den Raum betritt, hat sie ihr Antlitz verschleiert und darf den Schleier erst abnehmen, sobald sie links neben dem Bräutigam sitzt. Das erste, was dieser im reinen Spiegel sehen soll, ist die Reflektion seiner zukünftigen Frau (Quelle).
Spiegel als „Sonnenwerfer“ in Norwegen
Aber nicht nur in exotischen Kulturen findet sich eine ungewöhnliche Nutzung von Spiegeln. Im Oktober 2013 wurde der norwegischen Stadt Rjukan, die in der dunklen Jahreszeit durch die Berge ringsum für ein halbes Jahr komplett im Schatten liegt, zum ersten Mal Wintersonne geschenkt: mithilfe ferngesteuerter Spiegel, die die Sonnenstrahlen einfangen und dann auf den Marktplatz des Städtchens projizieren. Die Spiegel drehen und neigen sich mit der Sonne. Die Idee und Umsetzung des Plans dauerte circa. 100 Jahre. Wer jedoch glaubt, die Stadt wäre jetzt gänzlich mit Sonne beschienen, liegt daneben: Nur rund 600qm können durch die rund 610.000 € teure Installation erhellt werden (Quelle).
Der Totenspiegel im Judentum
Im praktizierten Judentum ist es Sitte, beim Tod eines Angehörigen die Spiegel zu verhängen. Hierfür gibt es mehrere Deutungen: Es soll verhindert werden, dass sich die Seele im Spiegel verfängt und nicht mehr herausfindet. Oder aber, dass sich der Leichnam darin spiegelt und aufgrund der Verdoppelung ein zweiter Todesfall im Haus angekündigt wird (Quelle). Das Judentum weist auch eine „moderne“ Auslegung, welche sich mit der Eitelkeit des Menschen befasst, aus. Diese besagt, es sei unangebracht, sich selbst im Spiegel zu begutachten, wenn man gerade einen geliebten Menschen verloren hat.
Bildquellen nach Reihenfolge:
© Gu Kaizhi; Admonitions Scroll Scene 7.jpg
© Masur; Archimedes-Mirror by Giulio Parigi “ Archimedes-Mirror by Giulio Parigi“ by Giulio Parigi – [1]. Licensed under Public Domain via Wikimedia Commons – http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Archimedes-Mirror_by_Giulio_Parigi.jpg#mediaviewer/File:Archimedes-Mirror_by_Giulio_Parigi.jpg
© iStock: HultonArchive
© 三神器.jpg; „三神器“ von 三神器.jpg: Unclemcderivative work; PawełMM
© Dr. Andreas Hugentobler; Schamane während einer Kamlanie-Zeremonie am Feuer in Kysyl.jpg
© Privatfoto mit freundlicher Genehmigung von H. J. Schlichting
© https://www.youtube.com/watch?v=jvLC5a1w-Gw
© Screenshots aus: https://www.youtube.com/watch?v=xdvA8X9PJuo
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